Vom Dechiffrieren einer Zeichensprache

Von Dr. Peter Coreth (Museum Humanum/Kulturbrücke Fratres)

Es ist jetzt 11 Jahre her, dass die Kulturbrücke Arbeiten von Henriette Leinfellner gezeigt hat. Der Schriftsteller Helmut Eisendle las dazu einen Text aus seiner Feder. Eisendle wäre auch für unsere heutige Vernissage die Idealbesetzung gewesen, denn er war ein ebenso einfühlsamer Apologet von Veronika Steiners Oevre und der Künstlerin sehr verbunden. In einem Brief schrieb er ihr einmal: „Eine eigenartige Freiheit hält mich am Leben. (...) Ich glaube, ich lebe auf einer Insel – auf der alles merkwürdig homogen ist, auf der es keine Uferstellen gibt, an denen man landen könnte. Wenn man auf der Insel ist, kann man sie nicht mehr verlassen. Man kann nur denen etwas zurufen, Zeichen geben, die in der Ferne sind.“

Helmut Eisendle ist seit 9 Jahren tot, und doch scheint es mir als wäre er in diesem Augenblick unter uns: Mit diesem „Zeichen geben“, von dem Eisendle schrieb, hat er uns - so meine ich - den Schlüssel zum Werkverständnis von Veronika Steiner hinterlassen. – Darauf werde ich gleich noch zurückkommen.

Lassen Sie mich vorher, in sträflicher Kürze, auf die Biografie Veronika Steiners eingehen: Sie ist 1968 geboren und entstammt einer Künstlerfamilie. (...) Aufgewachsen im Wein- und Waldviertel, begann sie - nach einem kurzen Ausflug in die Biochemie und die Musik - ihr Studium an der Hochschule für Angewandte Kunst, u.z. in der Meisterklasse für Schrift- und Buchgestaltung - ein Sujet, das in ihrem Schaffen eine große Rolle spielt. 1995 legte sie ihr Diplom mit Auszeichnung ab und seit 1996 ist sie Lehrbeauftragte an der Universität für Angewandte Kunst (wie diese Einrichtung heute heißt).

Veronika Steiner hat viele Preise erhalten, und die Liste der Orte, wo sie schon ausgestellt hat, ist so lang und Ehrfurcht gebietend, dass ich nur sagen kann: Wir sind stolz, dass wir jetzt auch auf dieser Liste stehen!

Aber jetzt zu ihrer Zeichensprache: Sie greift auf ein Kommunikationssystem zurück, das schon sehr lange funktioniert. Man wird an die Piktogramme der Urzeit erinnert, die ihre suggestive Wirkung bis heute nicht eingebüßt haben. - So weit der Anspielungshorizont sein mag, der sich hier auftut - der Betrachter landet nie in der Beliebigkeit. Er wird zum Existenziellen hingeführt. Und das gründet, wie wir wissen, im Geheimnis! Es ist aber kein bloßes Zitieren alter Bedeutungen. Veronika Steiner transformiert diese Zeichen in ihrem künstlerischen Akt. Und dieser Akt ist vor allem ein Orientierungsversuch, eine Vergewisserung des eigenen Da-Seins. Vielleicht könnte man, um ein Wort von Francis Bacon abzuwandeln, von „angewandter Metaphysik“ sprechen (ein Verfahren, von dem ich nicht sicher bin, ob man es an der „Angewandten“ erlernen kann).

Die Künstlerin selbst hat es einmal so beschrieben: „Mein Schaffen empfinde ich als beständige Annäherung, ein fortwährendes Suchen nach einem Weg, dessen Existenz von Polarität, Zeichen und Symbolen begleitet ist. Die von mir empfundene Gegensätzlichkeit zeigt sich in klaren Fragmenten und dunkler Schwärze.“

Was bedeutet das für die Rezeption? Jedes Zeichen ist, eo ipso, Bedeutungsträger. Es verbindet den Betrachter assoziativ mit einem bestimmten Symbolgehalt. Dabei tun sich Spannungsfelder auf, etwa zwischen Hell & Dunkel, zwischen Lebendigkeit & Starre, Innenwelt & Außenwelt usw. Wie sonst ließen sich diese Polaritäten überbrücken, wenn nicht mithilfe der Kunst ?

Aber verstehen wir noch ihre Botschaften? Verstehen wir noch ihre Sprache, die bildhaft, fließend und offen ist, eine Sprache, die sich nicht in präzisen Begriffen und logischen Wortfolgen ausdrückt, sondern in Analogien, in Andeutungen, in Gleichnissen...? Sagt uns das noch etwas, und was sagt es uns? Vielleicht sollten wir die zahllosen Krisen, denen wir uns immer mehr ausliefern, als Krisen unserer Kultur begreifen. Genauer gesagt: als eine kollektive Krise unserer Imagination. Wir haben die Koordinaten aus dem Blick verloren, die diese Polaritäten verbinden. Kate Reynolds hat für diese Krise treffende Worte gefunden: „We no longer agree upon what ist true and what is real. Our world lacks its own image.” Bevor wir sämtliche Irrwege unseres Labyrinths durchlaufen und womöglich auf die unerträglichen Gemeinplätze der New-Age-Bewegung hereinfallen, sollten wir vielleicht wieder auf die “provisorischen Wahrheiten” zurückgreifen, die uns die Mythen in Andeutungen hinterlassen haben. Hier bewegen wir uns auf einem tragfähigen Boden: Ein Mythos redet in der Sprache des schauenden Bewusstseins, nicht in der des erkennenden Bewusstseins. Er ist niemals explizit, immer metaphorisch, poetisch, assoziationskräftig... Mithilfe des Mythos könnten wir uns die Gabe der Anschauung zurück erobern, die uns rational gesteuerten Menschen oft so schmerzlich fehlt!

Womit wir wieder bei der Kunst wären und bei den Werken der Veronika Steiner: Sie evozieren innere Bilder – wie es die Gedichte von Paul Celan tun, auf die sich die Künstlerin oft bezieht. Inmitten von Chaos und Desorientierung entsteht durch den schöpferischen Vorgang des Ordnens und der Aussonderung von Unwesentlichem plötzlich eine Klarheit, die zur Klarsichtigkeit führt. Die tut uns gut, weil wir doch in einer Gesellschaft leben, die am Überflüssigen fast erstickt, während das Wesentliche – uns fundamental Betreffende – an die Ränder abgedrängt wurde, damit es das kopflose Getriebe bloß nicht stört! In der Klarheit ihrer Komposition und der farblichen Reduktion erinnert mich diese Bildsprache an die älteste Funktion von Kunst im menschlichen Dasein: Nicht Verzierung des Lebens, nein, sondern Methode zur Daseinsbewältigung! Hier wird uns – mit den Mitteln der Kunst! - eine Weltordnung als Gegen-Entwurf zur sog. „realen“ Welt vor Augen gestellt. Aber was heißt schon „reale Welt“? (Eine Frage, die uns wohl durch den ganzen heutigen Tag begleiten wird...)

Der Quantenphysiker und Nobelpreisträger Hans Peter Dürr hat einmal im Museum Humanum die Frage aufgeworfen, ob dieses Panoptikum menschlicher Imagination etwa nicht real sei, ob unsere Phantasiewelten etwa nicht real seien, und ob ihre Wirkungsgeschichte etwa nicht real sei...? Rechnen wir ruhig mit der Möglichkeit, dass das „logisch begreifbare Wissen“ und die „Gewissheit des inneren Zusammenhangs“ von einer höheren Warte aus miteinander verträglich sind. Bestünde diese Möglichkeit nicht, hätten wir uns den heutigen Thementag sparen können. Wie der Mythos, so umkreist auch die Kunst dieses Geheimnis. Zu ihren Mitteln gehört z.B. die Abstraktion: Sie begegnet uns schon in der neolithischen Kunst, dann auf chinesischen Sakral-Bronzen oder in den eurasischen Tierstilen... Später entwickelten die Alchemisten ein System von Entsprechungen, um der Natur der Dinge näher zu kommen. (...) Die Kunst des frühen 20. Jahrhunderts hat die extreme Stilisierung und Abstraktion wieder aufgegriffen und in den Dienst der neuen anthropozentrischen Weltsicht gestellt. Kunstrezeption ist also von jeher ein Dechiffrieren, ein Freilegen verborgener Bedeutungen! Und das war gar nicht immer ungefährlich, geht es doch um den direkten Zugang zu einer Art von Geheimwissen, das uns der Künstler/die Künstlerin aus einem „Sperrgebiet“ mitgebracht hat. Jahrhunderte lang waren Machthaber bestrebt, dieses Wissen unter Verschluß zu halten, damit die Untertanen bloß nicht zu Bewusstsein kommen!

Ich frage mich manchmal, ob das heute anders ist. Ob nicht an uns eine sanfte Dressur abläuft, mit dem Ziel, uns von den Ursprüngen abzukoppeln, damit wir die Vorgaben der Technokraten und Wirtschaftsabsolutisten besser erfüllen können... Ich denke, wir sollten uns dieser normativen Kopflosigkeit widersetzen! Und dabei sollten wir keinesfalls auf die Initiation verzichten, die von wesentlicher Kunst ausgeht! Sie gibt uns nämlich das, was uns am meisten nottut: Orientierung und Ermutigung!

So wünsche ich Ihnen ein ergiebiges und vergnügliches Dechiffrieren der Werke von Veronika Steiner!

Fratres, am 11. August 2012